Erben und Vererben in der Moderne

Erben und Vererben in der Moderne

Organizer(s)
Jürgen Dinkel / Dirk van Laak, Justus Liebig Universität Gießen
Location
Gießen
Country
Germany
From - Until
14.07.2016 - 15.07.2016
Conf. Website
By
Karin Gottschalk, Sonderforschungsbereich 1136, Georg-August-Universität Göttingen

Jürgen Dinkel und Dirk van Laak haben einen Workshop organisiert, der sich tatsächlich durch seinen Werkstattcharakter auszeichnete: Die vorab verschickten working papers und die kurzen Präsentationen setzten intensive Diskussionen in Gang, die angesichts der transepochalen und interdisziplinären Zusammensetzung interessante Einsichten und Hypothesen möglich machten. Daher ist es zu begrüßen, dass ein Großteil der working papers bereits veröffentlicht wurde.1 Der Workshop startete mit Befunden und Überlegungen zu bäuerlichen Erbpraktiken im 19. Jahrhundert und Nachfolgeregelungen von Unternehmern im frühen 20. Jahrhundert. Damit standen zwei soziale Gruppen im Zentrum, die in der bisherigen Forschung zu Erben und Vererben eine wichtige Rolle spielen.

CHRISTINE FERTIG (Münster) skizzierte die Grundprobleme, die die Ressourcentransfers in der ländlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts strukturierten. Dabei zeigte sie, dass die Einteilung in „Erbsysteme“ (geteilte versus ungeteilte Vererbung der Höfe), die den Blick auf die ländliche Gesellschaft lange geprägt hat, weit weniger erhellend ist als die Untersuchung der durchaus flexiblen bäuerlichen Erbpraktiken. Für diese Erbpraktiken war demnach zum einen das Austarieren der jeweiligen Interessen der Kinder, zum anderen der Zusammenhang von Hofübergaben und Alterssicherung entscheidend. Beides legte die vorgezogene Weitergabe nahe – tatsächlich wurden die Höfe in der Regel nicht testamentarisch, sondern kontraktuell weitergegeben. Die Interessen aller Beteiligten konnten in einem Spannungsverhältnis stehen. Notwendig waren mithin komplexe Planungen und Strategien. Fertig unterstrich in diesem Zusammenhang die Bedeutung des timings (Tanja Hareven). Märkte spielten dabei eine zentrale Rolle, insbesondere Arbeits-, Boden- und Heiratsmärkte. Dagegen scheinen grundherrliche oder staatliche Regulierungen weniger einflussreich gewesen zu sein als lange angenommen. Fertig wies aber auch darauf hin, dass neben dem durchaus vorhandenen „unternehmerischen Denken“ kulturelle Traditionen eine nicht unerhebliche Rolle spielten.

Unternehmerisches Denken und innerfamiliäre Nachfolgeregelungen standen auch im Zentrum der Ausführungen von SONJA NIEDERACHER (Wien), insbesondere deren Wirkungen auf die geschlechtsbezogene Verteilung von Vermögen. Auf der Basis von Nachlassakten des Wiener Handelsgerichts zwischen 1910 und 1930 zeigte sie, dass und wie Unternehmer die gesetzliche Erbfolge testamentarisch aufhoben oder zumindest modifizierten. Während das Erbrecht geschlechtsneutral ausgelegt war, waren es oft die Erblasser selbst, die geschlechtsbezogene Ungleichheit festschrieben. Häufig erhielten Töchter Vermögen, das relativ statisch war (Mitgift als zinsloser Kredit im Geschäft des Ehemannes, Immobilien, Unternehmensanteile als Beteiligungsnachfolge), während Söhnen die Führungsnachfolge in Unternehmen übertragen wurde. Niederacher unterstrich daher, dass für Unternehmen zwischen Führungsnachfolge und Besitznachfolge unterschieden werden müsse, und dass die Momentaufnahme Erbfall durch den Blick auf die längerfristigen Wirkungen zu ergänzen sei, um der ungleichen Wirkung formal gleicher Vererbung auf die Spur zu kommen.

Wie sich eine Geschichte des Erbens und Vererbens in der Moderne konturieren ließe, wurde aus der Perspektive der Frühneuzeitforschung, der Kulturanthropologie und der Neueren Geschichte erörtert. Zunächst arbeitete MARGARETH LANZINGER (Wien) ausgehend von der Frühen Neuzeit drei Fragenkreise heraus, die Aufschluss über langfristige Wandlungsprozesse in die Moderne hinein geben können. Hier stünden an erster Stelle die rechtlichen Strukturen: Das Erben und Vererben in der Frühen Neuzeit fand in kleinteiligen Rechtsräumen statt, in denen unterschiedliche Rechte parallel oder konkurrierend galten. Darüber hinaus waren die Verfügungs- und auch Vererbungsmöglichkeiten an materiellen Gütern sehr unterschiedlich, Volleigentum nur eine von vielen Formen des „Innehabens“. Charakteristisch war zweitens auch der Transfer großer Vermögensteile auf der Basis des ehelichen Güterrechts. Auf diese Weise wurde auch Liegenschaftsbesitz nicht etwa intergenerationell, sondern in einer Kette von Wiederverheiratungen sozusagen horizontal übertragen. Und drittens seien in den jeweiligen Ehegüterrechtssystemen und Erbregelungen spezifische Konkurrenzen bereits angelegt und diesbezüglich Konfliktlösungsstrategien entwickelt worden, in der Frühen Neuzeit etwa hinsichtlich der Stiefverwandtschaft. Daraus leitete sie grundlegende Fragen an eine transepochale Geschichte des Vererbens ab.

ULRIKE LANGBEIN (Basel) widmete sich einer Geschichte des Erbens und Vererbens in der Moderne aus der Perspektive der Kulturanthropologie und stellte Erkenntnisinteressen und Forschungsfelder vor. Erben und Vererben lasse sich kulturwissenschaftlich definieren als eine „Kulturtechnik der Tradierung“ von materiellen und immateriellen Werten. Langbein unterstrich, dass diese Vorgänge meist als selbstbestimmt und individuell erfahren würden, aber in hohem Maße historisch-kulturell und gesellschaftlich geprägt seien. Sie stellte an Beispielen dar, wie die Inventarforschung, Dorfforschung und Material Culture Studies das Spannungsverhältnis von individuellen und kollektiven Erfahrungen und Einstellungen, von Reproduktion der sozioökonomischen Ordnung und Regulierung zwischenmenschlicher Beziehungen erforschen. Ihre eigene Forschung zu „geerbten Dingen“ zielte darauf ab, einen ökonomistisch verengten Blick auf das Erben und Vererben aufzubrechen durch die Frage nach dem kulturellen Sinn, der in Erbpraktiken zum Tragen kommt.

MONIKA WIENFORT (Wuppertal) stellte in ihrer Skizze einer Geschichte des Erbens und Vererbens im 19. und 20. Jahrhundert unter anderem heraus, dass das Erben und Vererben in der Historiografie für den deutschsprachigen Raum eher wenig Aufmerksamkeit gefunden habe, ein Schwerpunkt liege dabei auf Forschungen zur ländlichen Gesellschaft. Für die Zeit ab etwa 1850 stünden dann Unternehmen im Fokus – Unternehmensgeschichten wiederum konzentrierten sich aber auf unternehmerisches Handeln und Innovationen. Dies lässt Wienfort zufolge historiografisch das revisionsbedürftige Bild von der dynamischen Bürgergesellschaft im Gegensatz zur eher statischen ländlichen Gesellschaft entstehen. Von ausgesprochen hohem Nutzen sei hier der europäische Vergleich von Erbstrategien und dahinter liegenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen Ziel eines solchen Vergleichs könnte so die Herausarbeitung von Familienethiken im Kontext von ökonomischer Logik und staatlicher Regulierung sein.

Der Mangel an empirischen Studien ist für das 20. Jahrhundert besonders eklatant, darauf wies auch RONNY GRUNDIG (Potsdam) hin. Dabei sei angesichts der Pluralisierung von Lebensformen, gestiegener Lebenserwartung und Geburtenrückgang auch von einer Diversifizierung der Vererbungspraxis auszugehen. Er näherte sich diesen Fragen über die Herausforderung, die Kinderlosigkeit für die Erbordnung darstellte. Angesichts der größeren Spielräume Kinderloser fragte Grundig danach, ob deren Vererbungspraxis an verwandtschaftlichen oder gelebten Beziehungen orientiert ist oder an individuellen ethischen Vorstellungen. Besonders aufschlussreich seien Grundig zufolge auch diskursive Veränderungen im gesellschaftlichen Umgang mit dem Vererben Kinderloser. Dass Kinderlose weit überwiegend im Sinne der gesetzlichen Erbfolge testierten, werfe generelle Fragen nach dem Motiv für die Errichtung eines Testaments auf.

Ein weiteres Testiermotiv für kinderlose, aber auch andere Erblasserinnen und Erblasser griff JÜRGEN DINKEL (Gießen/Washington, DC) auf: die Erbeinsetzung zum Ausgleich für geleistete Pflege und Versorgung, eine Vererbungspraxis, die er auf der Grundlage von Nachlassakten des Amtsgerichts Frankfurt am Main in den 1950er- und 1960er-Jahren rekonstruierte. Demnach wurden bis in die frühen 1960er-Jahre des Öfteren Personen testamentarisch zu Erben eingesetzt, die die Pflege des oder der Erblasser in Alter und Krankheit übernahmen. Als Kontexte nannte Dinkel das nur rudimentäre Vorhandensein von staatlicher Altersvorsorge und Pflegewesen sowie die Abwesenheit von Familienangehörigen. Es bedurfte einerseits Personen, die bereit waren, Pflege gegen diese (ungewisse) Gegenleistung zu übernehmen – fast ausschließlich Frauen. Andererseits bedurfte es grundsätzlich der Anerkennung von Fürsorge- und Pflegeleistungen als besonders zu vergütende, nicht selbstverständliche Unterstützung. Diese Ökonomisierung von Pflege blieb umstritten. Auch die zeitliche Differenz zwischen Pflegeleistung und Vermögensübertragung erhöhte die Störanfälligkeit. Nicht zuletzt das dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass diese Erbpraxis mit der Rentenreform 1957, dem Ausbau des Pflegesektors und der steigenden Renten einerseits, der Verfügbarkeit attraktiverer Arbeitsverhältnisse andererseits seit den 1960er-Jahren stark zurückging. Dinkel stellte fest, dass in der Folge Erbschaften weit seltener an Auflagen und Bedingungen geknüpft wurden, ein allgemeiner Trend, den auch andere Workshop-Teilnehmer/innen auf der Grundlage ihrer Forschungen bestätigten. Offenbar verlor das Testament Funktionen der Selbstreflexion, der Einflussnahme auf das Verhalten von Erbenden (Belohnung, Sanktionierung, Ratschläge). Erbe wurde freier verfügbar, auch stiegen die intragenerationellen Vermögenstransfers im Todesfall deutlich an (Berliner Testament), ebenso die Transfers unter Lebenden. Angesichts der Bedeutung von Vermögenstransfers inter vivos in den vorangegangenen Jahrhunderten (s. Fertig, Lanzinger) erschienen die 1950er- und 1960er-Jahre geradezu als Ausnahmejahrzehnte, so Dinkel.

Wie massive politische Veränderungen auf den gesamten Handlungszusammenhang des Erbens und Vererbens einwirkten, zeigten die Beiträge zu Eigentumsrecht und Erbpraxis in der DDR. So erörterte UTE SCHNEIDER (Essen) den Umgang mit Grundeigentum im Sozialismus und die Frage, ob und wie einschneidend sich dies längerfristig auswirkte. Solche Überlegungen werden insbesondere dadurch erschwert, dass es fast völlig an einschlägiger Forschungsliteratur fehlt. Schneider konnte dennoch Grundprobleme und Konfliktlinien deutlich machen, die aus dem Anspruch eines sozialistischen Umbaus der Eigentumsordnung und dem Spannungsverhältnis zwischen Privat- und Volkseigentum seit der Bodenreform 1945-49 entstanden. Hier stellt sich die Frage, wie sich solche Eingriffe und Umgestaltungen auf Erbrecht und Erbpraxis auswirkten, zumal bis zur Einführung des Zivilgesetzbuchs der DDR 1976 weiterhin das BGB – und damit auch dessen Erbrecht – in Kraft geblieben war. Wiederholt wurden zu solchen Problemen Stellungnahmen in der Presse veröffentlicht, ein Hinweis auf drängenden Klärungsbedarf in der Praxis. Die DDR-Führung regelte dies häufig auf dem Verordnungsweg. Schneider machte darauf aufmerksam, dass die Differenzierung in verschiedene Eigentumsformen geradezu an die Rechtszersplitterung während der Frühen Neuzeit erinnere (s. Lanzinger), allerdings ohne die dort gängige Praxis vertraglicher Lösungen. Laut Schneider sei zu vermuten, dass die massiven Eingriffe des Staates in die Eigentumsordnung insgesamt eine deutliche Zäsur auch für das Erben und Vererben markierten.

Einen Einblick in die prekäre Situation im Fall westdeutscher Erbschaften mit ostdeutschen Erben vermittelte EVA GAJEK (Gießen). Im politischen Diskurs der DDR waren Erbschaften problematisch, eine Reform des Erbrechts wesentliches Element gesellschaftlicher Umgestaltung: Der Vermehrung individuellen Reichtums und damit der Fortsetzung von Ausbeutungsverhältnissen wurde das Anwachsen gesellschaftlichen Reichtums gegenübergestellt. Erbschaften wurden beträchtlich besteuert. Anders lag der Fall, wenn Bürgerinnen und Bürger der DDR Vermögen in der BRD erbten: Auf den Sperrkonten in Westdeutschland wurde durchaus Reichtum aus Erbschaften angehäuft. Der direkten Verfügung und Überweisung waren enge Grenzen gesetzt. Daneben existierten allerdings indirekte Wege, so über die Genex Geschenkdienst GmbH: West-Bürger kauften Waren für Ost-Bürger über den Katalog der Genex zollfrei und unbegrenzt zu D-Mark-Preisen und ließen sie in die DDR liefern. Anfang der 1980er-Jahre festigte sich ein weiterer Transferweg über kirchliche Organisationen in BRD und DDR. Die DDR profitierte vom Transfer solcher Sperrguthaben als Devisenquelle. Entsprechend hoch war der Druck, den man auf DDR-Bürger ausübte, ihre ererbten Vermögen in dieser Weise zu transferieren. Diese wiederum waren keineswegs immer an einem Transfer interessiert, vielmehr warteten viele auch auf die Gelegenheit, als Rentner in die BRD ausreisen und dann ungehindert auf ihr Sperrguthaben zugreifen zu können. Erbfälle wurden so zum politisch-öffentlichen Gegenstand, in der lokalen Kommunikation ebenso wie etwa in Berichten der Staatssicherheit.

Beide Vorträge regten eine lebhafte Diskussion über den Umgang mit und die Bewertung von Eigentum sowie die Auswirkungen auf Erbpraktiken und Generationenverhältnisse an. Schneider und Gajek wiesen beide darauf hin, dass hier die Auswertung der laufend veröffentlichten Presseartikel sowie insbesondere der Leserbriefe nähere Erkenntnisse versprächen. . Diskutiert wurde, ob Vorstellungen intergenerationeller Weitergabe regelrecht ‚abtrainiert‘ werden sollten. Allerdings wurde in der Diskussion auch klar, dass es deutliche Kontinuitäten in der Wahrnehmung von Eigentum, insbesondere des Eigenheims, gegeben hat. Die staatlichen Eingriffe in Bodeneigentum führten zwar zu Verunsicherung, konnten aber ‚bürgerliche‘ Vererbungs- und Aneignungspraktiken nicht vollständig unterbinden.

Abschließend wurden zwei Institutionen thematisiert, die den Gestaltungswillen eines Erblassers auf Dauer stellen sollten, aber durchaus eigenständig agierten: Stiftungen und Testamentsvollstrecker. MICHAEL SCHELLENBERGER (Dresden) betrachtete unternehmensnahe Familienstiftungen des 19. und 20. Jahrhunderts und stellte in diesem Zeitraum einen grundlegenden Wandel in der Ausgestaltung dieser Stiftungsform am Beginn des 20. Jahrhunderts fest. Die seit dem Mittelalter und noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gängige Bindung an einen bestimmten Stiftungszweck (z.B. Ausbildung oder Notlage von Familienmitgliedern), für den in der Regel nur ein Teil des Vermögens in die Stiftung einfloss, trat in den Hintergrund, ebenso das Ewigkeitsprinzip. Familienstiftungen unabhängig von speziellen Zweckbestimmungen sah Schellenberger als Folge der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung im Kaiserreich, bei der einerseits große Vermögen angehäuft wurden, andererseits das Bedürfnis nach Absicherung bestand. Unternehmerische und familiäre Orientierung wurden auf diese Weise miteinander verbunden, die Versorgung der Nachkommen blieb vorrangig. Im späten 19. Jahrhundert begann auch ein weiteres Stiftungsmodell: die Einsetzung einer Stiftung anstelle leiblicher Erben. Dies war bereits früher von kinderlosen Unternehmern praktiziert worden, wurde nun aber auch von Unternehmern gewählt, die Nachkommen hatten. Als Stiftungszweck fungierte nun nicht mehr in erster Linie die Versorgung der Nachkommen, sondern die Sicherung des Unternehmens, was Schellenberger zufolge auf eine teilweise Erosion des bürgerlichen Familienideals hinweise.

Schellenberger betonte, dass für die Ausgestaltung von Stiftungen nicht allein der Wille des Stiftungsgründers und die Mitwirkung von Familienmitgliedern von Bedeutung waren, sondern zunehmend auchprofessionelle private Akteure, die mit ihrer juristischen und ökonomischen Expertise die Geschicke einer Stiftung entscheidend prägten. Welche Bedeutung solche „hidden helpers“2 als Akteure im Prozess des Erbens und Vererbens hatten, zeigte SIMONE DERIX (Bielefeld/München) in ihrem Beitrag über Testamentsvollstrecker am Beispiel der ultrareichen Familie Thyssen. Die Größe und internationale Streuung des Vermögens, aber auch Konfliktfälle innerhalb der Familie bedurften zunehmend der professionellen Expertise bei der Verwaltung, Erhaltung, Vermehrung und Weitergabe des Vermögens. Insbesondere die Testamentsvollstrecker spielten dabei eine herausgehobene Rolle, denn sie waren über Jahre an den Schnittstellen dieser Handlungsfelder tätig und verfügten über intime Kenntnisse sowohl der familiären Beziehungen als auch der Vermögenspraktiken. Dieses Wissen machte sie beinahe unangreifbar, so dass es auch im Konfliktfall nicht zum Bruch kam. Wurden hier um 1900 noch Vertraute aus dem Familien- und Freundeskreis eingesetzt, traten an deren Stelle im Laufe des 20. Jahrhunderts Rechts- und Finanzexperten. Diese Entwicklung spiegelte veränderte ökonomische und rechtliche Rahmenbedingungen wider, die eine Professionalisierung der Testamentsvollstreckung wie auch der Vermögensverwaltung insgesamt erforderlich machten. Angesichts der internationalenStreuung des Vermögens sowie der Konfliktträchtigkeit bedurfte es einer multinationalen Gruppe erfahrener Experten, die auch in der Lage war, staatliche Zugriffe möglichst zu verhindern.

Übereinstimmend nahmen die Teilnehmenden die epochenübergreifende Ausrichtung des Workshops als ausgesprochen bereichernd wahr. Für die weiteren Forschungen wurde das Potenzial diachroner Beschreibungen einschlägiger Quellengattungen diskutiert, insbesondere solcher, die es erlauben, auf Akteure und soziale Praktiken gerichtete Fragen in serieller Perspektive zu bearbeiten (z.B. Testamente). Allerdings gab es auch Vorbehalte gegen eine starke Fokussierung auf schriftliche, zumeist dem juristischen Kontext entstammende Quellen – insbesondere wurde für die Einbeziehung von massenmedialen Quellen plädiert, die Vorstellungen von Erben und Vererben sowohl visualisieren als auch selbst beeinflussen können.

Die transepochale Diskussion führte auch zu neuen Überlegungen hinsichtlich langfristiger Entwicklungstendenzen. Dabei kamen vertraute historische Narrative nicht nur in diachroner Hinsicht in Bewegung, sondern auch in sozialer Hinsicht: Kategorien wie Bürgertum und Adel, Bauern und Unternehmer(familien) bzw. die damit (vermeintlich) verbundenen Handlungsorientierungen verloren an Überzeugungskraft, mehr analytisches Potenzial wurde etwa in der Frage nach der jeweiligen Sozialformation, nach Vermögensstrukturen, Heiratskreisen oder ökonomischen Handlungslogiken gesehen.

Gerade bei letzterem liegt möglicherweise auch eine gewisse Gefahr, ökonomische Rationalitäten und individuell-intentionales Handeln zu über-, kulturelle Prägungen von Praktiken zu unterschätzen. Die Wirkmächtigkeit eines Reservoirs an Traditionsbeständen ist etwa im Begriff „Strategien“ nicht adäquat zu fassen. Im Verlauf der Diskussionen zeigte sich immer wieder, dass hier der Vergleich heuristisch und analytisch weiterführen kann, diachron ebenso wie synchron. Auffallend oft wurde der Vergleich mit Großbritannien angeführt, wo die Vermögensverfügung im Todesfall erheblich weniger Restriktionen unterworfen war als auf dem Kontinent. Ein solcher Vergleich kann dazu beitragen, unterschiedliche Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen hinsichtlich des Erbens und Vererbens stärker zu konturieren.

Diachron lassen sich auch Unterschiede im Verpflichtungscharakter des Erbes feststellen. Im transepochalen Vergleich wurde deutlich, dass didaktische Motive und der Glaube an eine langfristige Bindung schwinden. Darüber hinaus wird Erbe häufiger als Übernahme denn als Übergabe imaginiert, d.h. es geht auch um symbolische Aneignungsprozesse. In der Diskussion wurde mehrfach betont, dass solchen Fragen nach der kulturellen Dimension des Erbens und Vererbens – etwa nach den Vorstellungen der Erblasser davon, was bleibt oder nach der manipulativen Kraft von Erbe – mehr Raum gegeben werden sollte. So ließe sich vergleichend auch danach fragen, was jeweils thematisierbar war und was nicht. Insgesamt wurde deutlich, dass die Begriffe „Familie“ und „Verwandtschaft“ problematisiert bzw. genauer konturiert werden müssen.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Erbpraktiken im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Christine Fertig: Preußisches Erbrecht und bäuerliche Erbpraxis im 19. Jahrhundert

Sonja Niederacher: Vererben und Erben von Unternehmen

Panel 2: Erbpraktiken im 20. Jahrhundert – Verortungen und Perspektiven

Margareth Lanzinger: Erben und vererben im Kontext vielfältiger Transfermodi – historische Perspektiven mit Ausblick

Ulrike Langbein: Vererben und Erben als Handlungsfeld: Kulturanthropologische Perspektiven in der Erbforschung

Monika Wienfort: Fragestellungen einer Geschichte des Erbens

Panel 3: Vererben und Erben in der Bundesrepublik

Ronny Grundig: Lachende Erben? Eine Skizze zur Erforschung der Vererbungspraxis Kinderloser

Jürgen Dinkel: Erbschaften und Altersvorsorge – Über den Wandel von Erb- und Vorsorgepraktiken im 20. Jahrhundert in Frankfurt am Main

Panel 4: Vererben und Erben in der DDR

Eva Gajek: Erben über Grenzen. Deutsch-deutsche Erbschaften nach 1945

Ute Schneider: Erben und Vererben im Sozialismus

Panel 5: Erbe und Stiftungen

Michael Schellenberger: Stiftungen als Agenturen im Erbprozess

Simone Derix: Die Hidden Helpers der Vermögensweitergabe. Testamentsvollstrecker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Anmerkungen:
1 Siehe http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/daten/2017/Dinkel--vanLaak--Erben-und-Vererben-in-der-Moderne--2016.pdf (01.06.2017).
2 Simone Derix, Hidden Helpers. Biographical Insights into Early and Mid-Twentieth Century Legal and Financial Advisors, in: European History Yearbook 2015, S. 47-62.


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